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Wie stark prägt das deutsche Mitbestimmungsmodell die EBR-Arbeit?

FotoFoto Das Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund untersuchte in den Jahren 2004 und 2005 die praktische Arbeit Europäischer Betriebsräte in zwölf Konzernen. Daraus entstand die Typologie von Prof. Dr. Hermann Kotthoff, der fünf Arten von EBR-Arbeit unterscheidet.


Typ 1: Der EBR als "mitgestaltendes Arbeitsgremium"

Im Typ 1 ist der EBR - genauer gesagt: der Lenkungsausschuß des EBR - ein kontinuierlich arbeitendes Gremium, das sich nicht auf ein oder zwei Plenumssitzungen im Jahr beschränkt. Vielmehr stehen die Ausschußmitglieder in engem Kontakt untereinander und der EBR mischt sich in die "heißen" Themen auf Konzernebene ein: Betriebsschließungen, Produktionsverlagerungen und konzernweite Umstrukturierungsprogramme. Er ist in der Lage, hierzu eine einheitliche Position zu formulieren und in einen intensiven Dialog mit dem Konzernmanagement einzubringen. Zu einigen Fragen hat er bereits Vereinbarungen mit der Europaleitung ausgehandelt (z. B. über das Prozedere bei Betriebsschließungen), die zwar rechtlich nicht bindend sind, aber gleichwohl eingehalten werden.

Zwischen dem Spitzenmanager des Konzerns und dem EBR-Vorsitzenden ist eine informelle Dialogebene entstanden, die offen und belastbar ist. Es hat sich eine Vertrauensbasis entwickelt. Erstaunlich: unter den Konzernen dieses EBR-Typus findet sich kein deutscher, alle haben ihren Hauptsitz in angelsächsischen Ländern (USA, Großbritannien). Es gibt zwei wichtige Merkmale für diesen Typ: eine bestimmte Managementstruktur des Konzerns und eine bestimmte Struktur der Interessenvertretung.

1. Die Standorte sind über ganz Europa verteilt, es gibt kein beherrschendes Stammwerk. Für den Konzern ist Europa bereits ein Land ("Eurocompany"). Alles, was das "alte Europa" ausmacht, Länderunterschiede und Eigenheiten, wird vom Management glattgeschliffen.

2. Die Entscheidungsstruktur ist hochgradig zentralisiert bei operativer Dezentralisierung. Für die Hauptproduktgruppen gibt es mindestens zwei Standorte in Europa. Diese Standorte sind austauschbar. Es ist eine Konzernstruktur, die in der Managementliteratur als "global" bezeichnet wird. Die großen Nahrungsmittelkonzerne sind Musterbeispiele dafür, deren Europazentrale - in drei Fällen der Studie in London angesiedelt - quasi alles entscheidet: über einheitliche Programme, detailliertes Benchmarking und scharfes Controlling.

Keine Betriebsstätte, kein Stammhaus, kein Land dominiert die Arbeitnehmervertretung. Die deutsche Mitbestimmung ist lediglich eine Facette im Gesamtbild der Vertretungsstruktur. Gerade weil sie nicht bis London reicht, und ebenfalls auch keine andere nationale Vertretungskultur "von Natur aus" dominant ist, kann Neues leichter entstehen.


Typ 2: Der deutsche Betriebsratsvorsitzende als "Fürsprecher der Diaspora"

Beim Typ 2 handelt sich um deutsche Konzerne mit einer dominanten Stammhaus-Orientierung. Der EBR tritt hier nicht kontinuierlich in Erscheinung und hat keine transnationale Identität entwickelt, er ist eher ein Anhängsel der deutschen Mitbestimmung. Der EBR-Vorsitzende hat zugleich den Vorsitz im deutschen Konzernbetriebsrat inne und gehört dem Aufsichtsrat an. Er verfügt als herausgehobener Repräsentant der deutschen Mitbestimmung über einen direkten Zugang zum obersten Konzernmanagement.

In seiner Rolle als Vorsitzender des Europäischen Betriebsrates sieht er sich als Fürsprecher der Sorgen und Nöte der ausländischen Standorte. Er gestaltet den Ablauf der Plenumssitzungen so, daß die nicht-deutschen EBR-Mitglieder die Gelegenheit haben, der zentralen Leitung direkt ihre lokalen Beschwerden vorzutragen und ihr "Herz auszuschütten". Der EBR ist für die ausländischen Arbeitnehmervertreter eine Art Kummerkasten und wird von der deutschen Mitbestimmung im "Huckepack" getragen.

Die deutschen Standorte beim Typ 2 sind zwar zahlenmäßig stark, sie haben aber innerhalb des Konzerns ausländische Konkurrenten. Obwohl die deutsche Belegschaft in einigen Fällen schon real erfahren hat, daß sie von Entwicklungen an ausländischen Standorten betroffen ist, werden Verlagerungen jedoch in geringerem Ausmaß als beim Typ 1 praktiziert. Die Entscheidungen trifft kein abgehobenes Europa-Management, die Tochtergesellschaften anderer europäischer Länder werden stattdessen vom deutschen Stammhaus gesteuert.

In der Managementstruktur wie in der Mitbestimmungskultur herrscht ein deutscher Ethno-Zentrismus. Die "Fürsprache" ist durchaus eine Form wirksamer Vertretung, hängt aber stark von Engagement und Persönlichkeit des Vorsitzenden ab. Der Typ 2 ist daher kein transnationales, sondern ein auf den Stammsitz fokussiertes Handlungsmodell.


Typ 3: Der EBR als Informationsanalytiker - das Florettfechten

Beim Typ 3 handelt es sich um einen EBR mit Sitz in Frankreich. Der Konzernchef ("Patron") ist der Präsident des EBR, nur er lädt zu den Sitzungen ein, die immer in Paris stattfinden, und leitet diese persönlich. Die Arbeitnehmerseite hat für administrative Arbeiten einen Sekretär benannt, der als Betriebratsmitglied in einem Pariser Werk halbtags freigestellt ist. Anders als ein KBR-Vorsitzender in Deutschland hat er aber keinen direkten Zugang zur Konzernleitung. Zwischen dem Patron und den Arbeitnehmervertretern herrscht ein formelles und distanziertes Verhältnis. Der EBR hat einen Betreuer, der jedoch alle zwei Jahre von einer anderen Gewerkschaft gestellt wird. Die EBR-Mitglieder verstehen sich in erster Linie als Vertreter ihrer Gewerkschaft. Dem können sich nicht einmal die deutschen Betriebsräte entziehen, auch sie werden in Paris als Gewerkschaftsdelegierte angesprochen.

Die Plenarsitzungen verlaufen typisch französisch: Management und Arbeitnehmervertreter sehen sich als Gegner. Es ist allerdings eine "trainierte" und stilvoll zelebrierte Gegnerschaft, die weder Entgleisungen noch Verletzungen zuläßt - eine kunstvolle Übung wie das Florettfechten. Die EBR-Mitglieder unterstellen, daß der Patron "mauert", also nicht offen und freimütig über die strategischen Planungen unterrichtet und durch kunstvolle Attacken dazu gezwungen werden muß. Der Patron ist darauf aus, diese Attacken souverän zu parieren. Es ist weniger ein Frage- und Antwortspiel als eine kunstvolle Zeugenvernehmung. Die Arbeitnehmervertreter sind natürlich "präpariert" und haben die Bilanz des Unternehmens durch ein gewerkschaftsnahes Beratungsinstitut professionell und akribisch analysieren lassen. Das Florettfechten dauert fünf bis sechs Stunden.

Der Patron leitet die EBR-Sitzung straff und unnahbar. Den deutschen Betriebsräten bleibt nichts anderes übrig, als sich dieser befremdlichen Art des Umgangs anzupassen: "Wenn Du etwas zum Patron sagst, dann darfst Du es zwar direkt sagen, aber Du mußt es auf einem gewissen Niveau tun." Während die Spitzenmanager in englischen oder deutschen Konzernen durchaus auch einmal am Abendprogramm des EBR teilnehmen, gilt in Frankreich: Der Patron mischt sich nicht unter's Volk. Deutschen Betriebsräten gelingt daher nicht, was sie instinktiv zuhause tun würden: eine persönliche Begegnung suchen, um nach der Entgegennahme aller Informationen unverzüglich in die Beratung und die konstruktive Mitgestaltung überzugehen.

Der EBR des Typs 3 ist (noch) kein Mitgestalter geworden. Das Management gesteht ihm diese Rolle nicht zu. Zwar arbeitet er Stellungnahmen zu konzernpolitischen Fragen aus, diese werden jedoch lediglich wie diplomatische Noten ausgetauscht. Die Wirksamkeit besteht darin, daß er das Management durch seine professionelle Informationsanalyse unter Druck setzt. Der Lenkungsausschuß als reines Arbeitnehmergremium ist eine handlungsfähige Einheit geworden und hat zur Verhinderung von Personalreduzierungen bereits transnationale Aktionen organisiert.


Typ 4: Der EBR im Leerlauf - ein zahnloser Tiger

Beim Typ 4 handelt es sich um einen EBR mit großer Belegschaft in Deutschland, die noch wenig mit den ausländischen Standorten in Konkurrenz steht. Jedes Werk hat eine spezifische Produktpalette, Überschneidungen gibt es kaum. Diese "heile Welt" ändert sich jedoch allmählich durch den Aufbau neuer Produktionsstätten in Osteuropa. Die normale EBR-Arbeit funktioniert beim Typ 4 relativ gut, es fehlt weder an Ressourcen noch an Arbeitsmöglichkeiten. Aber die wirklich "heißen Themen" laufen am EBR vorbei. Stattdessen beschäftigt er sich mit sich selbst und dreht sich im Kreis.

Der EBR sucht nach "attraktiven" Inhalten für die jährliche Plenumssitzung und organisiert Vorträge und Workshops zu europapolitischen Themen, die aber keinen direkten Bezug zu den drängenden Problemen im Konzern haben. Wichtig ist das Abendprogramm, wo auch mal ein Schichtarbeiter aus Portugal mit dem deutschen Vorstandsvorsitzenden zwanglos reden kann. Diese informellen Kontakte - auch zwischen den Arbeitnehmervertretern - sind das Wichtigste. Der EBR wird von der zentralen Leitung ordnungsgemäß informiert, aber diese Informationen machen ihn nicht "heiß". Als Antwort auf Fusionen widmet er sich der Aushandlung einer neuen EBR-Vereinbarung, nimmt aber auf die zugrundeliegende Politik des Konzerns keinen Einfluß. Der EBR-Vorsitzende besucht regelmäßig ausländische Standorte - jedoch nicht anläßlich akuter Probleme im "Feuerwehreinsatz", sondern zu Repräsentationszwecken, bei denen der Werksleiter schon auf dem Hof zum Rundgang wartet.

Die Wirksamkeit des EBR-Typ 4 ist geringer als bei den Typen 1 bis 3. Solange der deutsche Konzernbetriebsrat seine Hegemonie gegenüber den ausländischen Standorten nicht aufgeben will, scheint eine Weiterentwicklung dieses EBR-Typs schwer vorstellbar. Sie wird jedoch unausweichlich, sobald internationale Standortfragen dem deutschen KBR "auf den Tisch rollen".


Typ 5: Der marginalisierte EBR - ein Fehlstart

Beim Typ 5 handelt es sich um einen Europäischen Betriebsrat, der schon viele Jahre eher unauffällig existiert und nicht "ins Laufen gekommen" ist. Zurückliegende Fusionen und Übernahmen kennzeichnen das soziale Klima und weder der Konzern noch der EBR sind kulturell "zusammengewachsen". Zudem behindern Machtstrukturen (bzw. Machtkämpfe) innerhalb der Arbeitnehmerseite eine Weiterentwicklung zu einem funktionsfähigen Gremium.

In einem der untersuchten Beispiele übt der langjährige deutsche Konzernbetriebsratsvorsitzende den EBR-Vorsitz aus. Zur Jahressitzung, die zwei Tage dauert und an wechselnden Orten stattfindet, erscheint regelmäßig die oberste Riege der Konzernleitung. Dagegen hat der dreiköpfige Lenkungsausschuß - zwei davon sind Deutsche - noch nie eine eigene Sitzung durchgeführt. Der Vorsitzende hält wenig von der Institution EBR und engagiert sich kaum dafür. Er pflegt aber persönlich gute Beziehungen zu einzelnen Mandatsträgern im Ausland - am EBR vorbei sozusagen. Solange er das Amt nicht abgibt, torpediert er damit die Funktionsfähigkeit des Gremiums.

Auch der Personalleiter gibt offen zu erkennen, daß er nichts von der Institution EBR erwartet. In den Jahressitzungen wird von osteuropäischen Delegierten ungeschminkt Kritik vorgebracht, auch in Anwesenheit der Konzernleitung. Diese schiebt die Verantwortung jedoch auf das Management vor Ort. Vom EBR selbst werden die Klagen nicht weiterverfolgt. Er könnte eine Fürsprecherfunktion wahrnehmen, aber der EBR-Vorsitzende steht nicht dahinter. Auch das Management steht nicht dahinter und die Gewerkschaften überlassen dem mächtigen deutschen EBR-Vorsitzenden das Feld. Es ist niemand in Sicht, der dem Gremium Leben einhauchen könnte.

In einem anderen Unternehmensbeispiel gibt es Machtkämpfe auf den unterschiedlichsten Ebenen:
1. zwischen den Betriebsratsvorsitzenden der deutschen Standorte,
2. zwischen den französischen Gewerkschaften ("die kloppen sich wie die Kesselflicker") und
3. zwischen Deutschen und Franzosen.
Diese Situation konnte weder durch die Wahl eines "machtlosen" Kompromißkandidaten aus Frankreich noch durch eine deutsch-französische "Doppelspitze" befriedet werden, vielmehr beschäftigt sich das Gremium seit Jahren weitgehend mit sich selbst. Und dies, obwohl die Konzernleitung gerne einen funktionierenden EBR als Gesprächspartner aufbauen und sich von den lokalen Machtkämpfen unabhängig machen würde.


Abschlußbericht

Im Juli 2006 ist die Studie als Buch erschienen. Der Autor zieht darin eine Zwischenbilanz der zurückliegenden Jahre seit Inkrafttreten der EBR-Gesetzgebung, die er als "Lehrjahre" des EBR bezeichnet. Seine Typologie basiert auf Befragungen deutscher und nicht-deutscher EBR-Mitglieder, Gewerkschaftssekretäre und Personalmanager in zwölf Unternehmen.

Foto Hermann Kotthoff
Lehrjahre des Europäischen Betriebsrates
Zehn Jahre transnationale Arbeitnehmervertretung
Berlin 2006, 184 Seiten, ISBN 3-8360-8671-9, Preis: 14,90 €

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